Rebellen im Radsport - 2.Teil

"Rebellen" im Radsport
Teil 2 der Serie: Wie die RSG Hercules zwischen 1980 und 1989 den deutschen Straßenrennsport dominierte. - 19.06.2020 

1984
Da gab es für den RSG-Chef Jochen Müller reichlich Grund zur Freude, als im Jahr 1984 in Alpirsbach Thomas Freienstein die Straßen-DM gewann und Dieter Burkhardt (links) Platz drei erkämpfte. © Archiv: Manfred Marr.

KATZWANG - Ab 1979 zählte sie mit einer beachtlichen Anzahl an Siegen und 12 Deutschen Meister-Titeln auf Bahn und Straße bereits zu den erfolgreichsten Radsport-Vereinen Deutschlands! Doch das sollte erst der Anfang sein, denn die außergewöhnliche Erfolgsserie des kleinen Radsportvereins setzte sich mit zahlreichen Siegen und 20 weiteren Deutschen Meistertiteln noch bis 2002 fort – ab 1980 unter dem neuen Namen RSG Hercules Nürnberg, ab 1991 als RSG Nürnberg und ab 1996 als Profi-Mannschaft "Team Nürnberger". Im zweiten Teil unserer Serie berichten wir über die Zeit zwischen 1980 und 1989.
Trotz der vielen großen Erfolge endete das Rennjahr 1979 für die RSG mit erheblichen Sorgen, denn der immer größer und umfangreicher werdende Rennbetrieb konnte auf der bisherigen Vereinsbasis nicht mehr finanziert werden. Verzweifelt suchte man deshalb nach einem Sponsor. Und wieder war es der Fürther Radsportidealist Ernst Feigl, der den entscheidenden Tipp gab. Durch seine Vermittlung kam der Kontakt der RSG zur Firma Hercules zu Stande, der neue Hauptsponsor.
Mit großzügiger Unterstützung durch den renommierten Fahrradhersteller hatte die Mannschaft, die nun als "RSG Hercules" in ihren neuen blauen Trikots fuhr, eine solide Basis für die folgenden Jahre. Doch plötzlich gab es ein neues, sehr großes Problem durch den Bund Deutscher Radfahrer (BDR) der von den Nationalfahrern des Olympia-Kaders von 1980 verlangte, dass sie an allen Vorbereitungsmaßnahmen des BDR teilnehmen und ausschließlich mit Rennmaterial des BDR-Sponsors Peugeot fahren sollten.
 
Eklat mit dem BDR
Damit standen die Nürnberger Cracks plötzlich vor der Wahl "Brot oder Spiele", denn ihre Freiheit bei der Rennplanung und den gerade erst gewonnenen Sponsor Hercules wollten sie natürlich nicht verlieren. Die BDR-Bedingungen wurden abgelehnt. Nachdem auch ein Kompromissvorschlag der RSG beim BDR keine Gegenliebe gefunden hatte, kam es schließlich zum Eklat. Der BDR schloss die fränkischen Asse aus dem National- und Olympia-Kader und damit auch aus der Sporthilfe aus!
Für die Medien damals ein gefundenes Fressen: Die Nürnberger Asse wurden über Nacht zu "Rebellen", deren Leistungen nun besonders aufmerksam verfolgt wurden. Die Werbung für den Sponsor Hercules hätte nicht größer und wirkungsvoller sein können, denn Burkhardt, von Loeffelholz, Flögel und Co. stürmten von Sieg zu Sieg und hängten dabei die Nationalfahrer von Bundestrainer Karl Ziegler fast immer ab. So auch bei der Straßen-DM 1980 in Mainz-Ebersheim, die der RSG-Neuzugang Hans Neumayer aus Moosach gewann. Friedrich von Loeffelholz stand als Dritter mit auf dem Podium. Mit vier Fahrern war die RSG Hercules unter den Top 12.
Den Ausschluss aus dem Olympiakader konnten die Hercules-Asse als Deutschlands erfolgreichste Straßenfahrer also locker wegstecken! 1980 gewannen von Loeffelholz, Burkhardt, Flögel und Neuzugang Andreas Lübeck mit fast drei Minuten Vorsprung auch die Deutsche Vierer-Meisterschaft über 100 Kilometer. Die Freude über diesen Titel sollte nicht lange währen, denn der BDR schlug zurück: Wegen eines minimalen Restbefundes eines Aufbaumittels, das Dieter Flögel nach einer schweren Infektion im Frühjahr zur besseren Regeneration eingenommen hatte, wurde der RSG der Titel wieder aberkannt.
 
Boykott der "Spiele"
Mit ganz großen Siegen unter anderen am "Henninger-Turm" in Frankfurt und beim "Ernst-Sachs-Gedächtnis-Rennen" in Schweinfurt verabschiedete sich der "Radbaron" Friedrich von Loeffelholz 1980 mit 25 Jahren sehr früh vom Radsport. "Meine berufliche Entwicklung hat nun den Vorrang", ließ er den erstaunten Medien-Vertretern wissen. Sein Erbe setzten Dieter Flögel und Dieter Burkhardt zusammen mit dem Deutschen Straßenmeister Hans Neumayer und den Neuzugängen Andreas Lübeck (Bünde) und Andreas Englert (Schweinfurt) erfolgreich fort. Insgesamt feierten die "Rebellen" 51 Saisonsiege im Jahr 1980! Nachdem die Olympischen Spiele von Moskau wegen der sowjetischen Invasion in Afghanistan unter anderem von der BRD boykottiert worden waren, hatten die fränkischen "Rebellen" zur Freude über ihr Rennjahr auch noch die Schadenfreude auf ihrer Seite!
Zur Förderung des Amateur-Straßenrennsports sponserte die Dredner Bank ab 1981 eine neue Rennserie um das "Grüne Band" mit den zwölf bedeutendsten und schwersten Eintages-Rennen. Auch hier dominierten die fränkischen Asse: Allein vier Siege erkämpfte Janusz Bieniek, ehemaliger polnischer Nationalfahrer, der ab 1981 das Nürnberger Trikot trug. Dieter Flögel, der in der Gesamtwertung als zweiter den Doppelerfolg der RSG sicherte, gewann "Rund um Dortmund", Dieter Burkhadt den Frühjahrs-Klassiker "Köln-Schuld-Frechen" und Andreas Englert den "Großen Tucher-Preis" des RC Herpersdorf.
Bester deutscher Fahrer bei der Straßen-WM in Prag war Dieter Flögel als Fünfter. Jochen Müller, der als Nachfolger von Fritz Wolkersdorfer ab 1981 die RSG Hercules leitete, konnte sich außerdem über einen weiteren Deutschen Meistertitel freuen: Martin Pudelko, der als Schüler bei der RSG mit dem Radsport begonnen hatte, wurde in Bergen-Enkheim Deutscher Straßenmeister der Junioren! Fast wäre 1981 noch ein weiterer DM-Titel dazu gekommen: Nur elf Sekunden fehlten Burkhardt-Flögel-Lübeck und Ireneus Walczak, ein weiterer Fahrer aus Polen, nach 100 Kilometern zum DM-Titel im Vierer.
Während die Polen Walczak und Bieniek bereits 1982 die RSG wieder verließen, fand mit Thomas Freienstein (Fulda) ein junger Nationalfahrer zur RSG, der in den folgenden Jahren echtes Weltklasseformat erreichte! Freienstein gewann die Gesamtwertung des "Grünen Bandes", den Brügelmann-Cup und die Hessen-Rundfahrt. Doch auch mit der neuen Top-Besetzung Thomas Freienstein, Dieter Burkhardt, Dieter Flögel und Andreas Englert verpasste der RSG-Vierer als Vizemeister erneut ganz knapp den DM-Titel hinter dem RC Opel-Schüler Berlin.
 
1982 von Sieg zu Sieg
Überragender Mann der Saison war 1982 Dieter Burkhardt, der nach Siegen bei den Klassikern in Dortmund und Schweinfurt in Rosenheim bei der Einer-Straßen-DM ganz groß auftrumpfte: Im packenden Finale um den Titel ließ er nach rund fünfstündiger Regenschlacht durch die oberbayerischen Berge dem späteren Weltklasse-Profi Rolf Gölz sowie Werner Stauff keine Chance!
Außergewöhnlich erfolgreich verliefen für die RSG Hercules auch die Rennjahre 1983 bis 1989 mit vielen großen Siegen bei Klassikern, Etappenrennen und acht weiteren Deutschen Meistertiteln! Seinen schönsten Sieg feierte 1983 Dieter Flögel als er in Reute/Breisgau mit einem kraftvollen und cleveren Schlussspurt die Straßenmeisterschaft vor den beiden Berlinern Joachim Schlaphoff und Peter Becker gewann.
1984 sorgte Thomas Freienstein dafür, dass der Straßen-Titel bei der RSG Hercules blieb. Auf einer sehr selektiven 168-Kilometer-Strecke durch den Nord-Schwarzwald war der 24-jährige Theologiestudent in Alpirsbach der überragende Mann des Tages. Freienstein fuhr als strahlender Solo-Sieger mit klarem Vorsprung vor Rajmund Lehnert (Dortmund) ins Ziel. Im mitreißenden Finish des Feldes um Platz drei hatte einmal mehr Dieter Burkhardt die schnellsten Beine.
Der nächste DM-Titel für die RSG Hercules war bereits 1985 fällig, als der Nürnberger Straßenvierer mit Dieter Burkhardt, Thomas Freienstein, Werner Stauff und dem Lisberger Hans Knauer über 100 Kilometer absolute Tagesbestzeit fuhr. Ein Jahr später folgte die sechste deutsche Meisterschaft für die RSG Hercules im Einer-Straßenrennen als Werner "Kiko" Stauff nach brutaler Hitzeschlacht im pfälzischen Bann mit dem Dortmunder Bernd Gröne in die Zielgerade einbog. Stauff gewann den Zweikampf um den Titel souverän. Noch spannender wurde es nach knapp einer Minute als das Feld verbissen um Platz drei spurtete. Und wieder war es Dieter Burkhardt, der unwiderstehlich antrat und den Massensprint unangefochten für sich entschied! Für Dieter Burkhardt, der damit zum zehnten Mal bei einer DM auf dem Treppchen stand, war es ein glänzender Abschluss seiner langen und erfolgreichen Karriere.
Ein neuer Abschnitt in der Geschichte der RSG hatte sich entwickelt nachdem sich Friedrich von Loeffelholz 1980, Dieter Flögel 1984 und Dieter Burkhardt 1986 verabschiedet hatten, denn diese drei Fahrer waren absolute Ausnahmeathleten. Ihr Erfolgsrezept war kein Geheimnis, wie Burkhardt in einem Interview einst erklärte: "Wir betrieben unseren Sport professioneller und konsequenter als die Konkurrenz und setzten uns im Rennen immer Ziele. Es hat sich ausgezahlt, dass wir immer getreu dem Motto an den Start gingen: ,Lieber einen schlechten, als gar keinen Plan." Hinzu kam, dass das legendäre Erfolgstrio der RSG wesentlich härter trainierte als viele ihrer Konkurrenten, denen sie meist auch an taktischer Cleverness überlegen waren.
 
Regie übernommen
Ab 1987 wurde es zwar etwas ruhiger um die RSG, doch mit zehn Spitzenfahrern zählte sie nach wie vor zu Deutschlands erfolgreichsten Teams, in dem erstmals Dieter Burkhardt fehlte, der nun jedoch neben Jochen Müller als 2. Vorsitzender und Sportleiter die Regie übernahm. Zu den bewährten Assen Werner Stauff, Hans Knauer, Thomas Freienstein und Werner Wüller gesellten sich junge Talente wie Remig Stumpf, Klaus-Dieter Pöhlmann, Thomas Krön, Markus Schleicher, Christian Verschl und Axel Hassler. Großartig entwickelt hatte sich auch der gebürtige Nürnberger Norbert Arnold, der als 10-Jähriger bei der RSG mit dem Radsport begonnen hatte. Er begeisterte die heimischen Radsportfans später als Amateur mit Siegen bei den fränkischen Klassikern in Herpersdorf und Cadolzburg! Auch im Crosssport zeigte Norbert Arnold außergewöhnliches Talent. Er wurde mehrfacher Bayerischer Meister und 1987 in Berlin deutscher Vize-Meister im Gelände. Remig Stumpf, der 1988 mit einem sensationellen Etappensieg bei der Friedensfahrt überraschte und in Schweinfurt die schwere Ernst-Sachs-Tour gewann, holte im 50-Kilometer-Einzelzeitfahren einen weiteren deutschen Meistertitel für die RSG. Bei der Vierer-WM in Villach wurde er Fünfter.
Die Schallmauer von 50 km/h durchbrach 1988 bei der Vierer-DM in Berlin das Quartett der RSG Hercules mit Remig Stumpf, Werner Stauff, Werner Wüller und dem Münchner Ernst Christl. Die 92,3 Kilometer lange Schleife legten die entfesselten Franken in der sensationellen Siegerzeit von 1:49,11 Std. zurück und ließen damit den Mitfavoriten aus Stuttgart und Berlin keine Chance.
Kapitän Remig Stumpf holte wenige Wochen danach erneut den Einer-Titel im Zeitfahren über 50 Kilometer nach Nürnberg: "Es lief einfach prächtig bei mir", strahlte der erst 21-jährige Unterfranke, der damals als größtes deutsches Radsporttalent bezeichnet wurde. Nach der Super-Saison 1988 wechselten Stumpf, Stauff und Wüller gemeinsam ins Lager der Profis, womit sie bei der RSG Hercules eine große Lücke hinterließen.
Es war nicht leicht für die RSG Hercules 1989 an frühere Erfolge anzuknüpfen, zumal man nun mit einigen weniger bekannten Talenten in die neue Saison ging! Doch auch diese jungen Fahrer zeigten enormen Ehrgeiz und holten 21 Siege bei Eintages- und Etappenrennen. Der gebürtige Münchner Holger Duwe überraschte bei der Deutschen Straßenmeisterschaft in Schweinfurt mit Platz zwei. Als bester Sprinter der RSG Hercules feierte der Strullendorfer Thomas Krön neun Saisonsiege. Der erst 21-jährige Junioren-Ex-Meister Christian Verschl zeigte bei Straßenrennen und Rundfahrten vielversprechende Leistungen. In der Gesamtwertung der Rad-Bundesliga 1989 belegte er als bester Nürnberger Rang sieben.
Einen weiteren DM-Titel für die RSG – es war inzwischen der 23. – gewann 1989 eine junge Dame: Die 17-jährige Jeanette Matt, Schwester des RSG Fahrers Reto Matt, sorgte als Straßenmeisterin der Juniorinnen dafür, dass die jährliche Siegesserie der RSG bei Deutschen Meisterschaften von 1975 bis 1989 nicht unterbrochen wurde.
Das letzte – ebenfalls sehr erfolgreiche – Kapitel der RSG wurde in den 1990er-Jahren geschrieben, nachdem sich die Firma Hercules vom Radrennsport zurückgezogen hatte und die Nürnberger Versicherung als neuer Sponsor gewonnen werden konnte. Mehr darüber im dritten Teil des Rückblicks in Kürze.